Rekrut Senzapace
1939: Der Tessiner Bergler Adolfo Senzapace muss in die Rekrutenschule. Die Mutter weckt ihn in aller Hergottsfrühe und denkt: „Aber dieser Junge ist nicht gemacht, um in die Welt hinauszugehen. Nichts wie Einfalt und Unschuld … Sie werden ihn erniedrigen und beleidigen.“
Und genau so kommt es. Senzapace ist so gross und so dick und so stark, dass eine spezielle Uniform für ihn angefertigt werden muss. Und er ist so sensibel, dass er zum steten Quell für die Belustigung der anderen Rekruten wird; er fällt auf jeden gemeinen Trick seiner Peiniger herein. Sie nennen ihn “Schneeglöckchen”.
Ich habe das Buch vor Jahrzehnten gelesen. Und eine Szene hat sich mir ins Gedächtnis eingebrannt: Ausgang am Abend. Senzapace stapft einsam durch einen Jahrmarkt. Er sieht ein kleines Teigröhrchen mit süssem Inhalt, das er gerne kaufen möchte. Er macht einen Kassensturz. Sein karger Sold muss für die Heimreise und für die Geschenke für die Mutter reichen. Aber 20 Rappen kann er ausgeben. Das köstliche Röhrchen kostet 15 Rappen. Er verlässt den Verkaufsstand, kehrt zurück – geht, kommt – kauft es und sucht eine stille Ecke, um es zu geniessen. Senzapace ist hin und her gerissen zwischen Vorfreude und Gewissenspein.
„He Schneeglöckchen!“ ruft der Rekrut Cerasa. Schon ein wenig betrunken, reisst er ihm das köstliche Röllchen aus der Hand und verschlingt es mit einem Bissen. Fast immer, wenn ich eine Patisserie sehe, denke ich an diese Szene. In diesem Buch habe ich gelernt, was Mobbing ist, lange bevor ich dieses Wort kannte. Tröstlich übrigens, dass die Geschichte ein glückliches Ende findet.
Der Tessiner Autor Orlando Spreng (1908 – 1950) hat das Buch “La recluta Senzapace” geschrieben. Es erschien 1939 auf Italienisch und kurz darauf auch auf deutsch (Übersetzung: R. J. Humm, mit Holzschnitten von Aldo Patocchi). – Zur Zeit der Generalmobilmachung barg es viel Sprengstoff und auch heute ist Mobbing in der Schweizer Armee ein Thema, unter anderem gegenüber Soldaten aus anderen Sprachregionen. 2018 ging ein solches Ereignis durch die Medien.