Archiv der Kategorie: Kolumnen

Hilft das Wünschen?

BirsMagazin 4/2024
Fokus: Wunsch
Kolumne: Wortwörtlich

Hilft das Wünschen?
Von Jürg Seiberth

Neulich hat mir Tiny Tom* ein paar Geheimnisse verraten: Als er neun Jahre alt war, bat er jeden Abend vor dem Einschlafen den lieben Gott, ein Saxophon unter sein Bett zu legen. Am Morgen schaute er als erstes unters Bett. Da war nie ein Saxophon. Jeden Morgen die Hoffnung und die Enttäuschung. Er sei damals ja sooo blöd gewesen. Den Nikolaus, das Christkind und den Osterhasen hatte er längst durchschaut. Und trotzdem sagte ihm ein Gefühl, dass das, was man sich wirklich sehnlich wünscht, in Erfüllung gehen muss. Sein Verstand war anderer Meinung, aber das Gefühl blieb. Es regte sich auch später, als er sich heimlich verliebte. Er ging spazieren und wünschte sich sehnlich, der geliebten Silvie zu begegnen – ausnahmsweise nicht umschwirrt von ihren neugierigen Freundinnen. Er traf sie nie. Aber das Gefühl blieb. Der Verstand ermahnte ihn eindringlich, keiner Menschenseele jemals ein Sterbenswörtchen über dieses Gefühl zu verraten. Sonst würde ihn bald die ganze Welt auslachen. Wenn das Telefon klingelte, hatte er auch dieses Gefühl. Dann wünschte er sich sehnlich, Alfred Hitchcock wäre am Apparat und würde ihn bitten, in seinem nächsten Film die Leiche zu spielen. Noch heute überkommt ihn dieses warme Gefühl, wenn sein Handy brummt. Natürlich habe er das Buch «Bestellungen beim Universum» verschlungen und sogar einen sündteuren Workshop bei Bärbel Mohr besucht. Tiny Tom schliesst seine Beichte mit der Abwandlung eines beliebten Shakespeare-Zitats: „Alle Gedanken, Ideen und Pläne sind die Kinder geheimer Wünsche“. – Tiny Tom hat mir das alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt. Trotzdem möchte ich seine Bekenntnisse zur Unvernunft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen, denn Tiny Tom ist heute ein berühmter Saxophonist, er ist mit der bezaubernden Silvie verheiratet und er durfte schon viermal im «Tatort» die Leiche spielen. Ja, das Wünschen hilft noch immer, liebe Brüder Grimm, auch heute können aus geküssten Fröschen Prinzen werden.

* Name geändert

RÄUME FÜR TRÄUME

BirsMagazin 3/2024, Fokus Unterwegs
Rubrik: Wortwörtlich

Von Jürg Seiberth

Jedes Jahr erscheinen weltweit rund 1,8 Millionen neue Buchtitel. – Und wie viele Bücher erscheinen nicht?

Wie viele fertige, mit Herzblut geschriebene Manuskripte werden nie veröffentlicht, schlummern auf einer Festplatte oder verschwinden ungelesen in einer Schublade? Ein grosser Teil der veröffentlichten und unveröffentlichten Bücher ist Belletristik. Hunderttausende lassen ihrer Phantasie freien Lauf und schütten ihr Herz aus. Sie sitzen monatelang am Schreibtisch, ohne zu wissen, ob sie für diese enorme Leistung jemals mit Ruhm oder Geld belohnt werden. Warum tun sie das?

Eine mögliche Antwort erhält, wer sich mit dem produktivsten und erfolgreichsten Schriftsteller des deutschen Sprachraums beschäftigt, mit Karl May. Er schrieb von seiner Geburt bis zum Tod durchschnittlich etwa 5000 Zeichen pro Tag. Damit hat er ein grosses Publikum beglückt und viel Geld verdient. Aber es muss noch andere Gründe für sein unermüdliches Schreiben gegeben haben.

Der mittellose Webersohn war zu klug für das, was die Welt mit ihm vorhatte. Deshalb eckte er immer wieder an. Schreibend schuf er Räume, in denen er sich entfalten konnte, Welten, in denen das Gute stärker war als das Böse, Welten, in denen er sich Respekt verschaffen konnte. Dort verwirklichte er seine Träume kostenlos und ohne den Widerstand voreingenommener Autoritätspersonen.

Das verschaffte ihm auch in der realen Welt Respekt. Das Publikum träumte mit und verehrte ihn. Er wurde reich. Nun wollte er auch im wirklichen Leben Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi sein. Er behauptete, seine Reiseromanen enthielten nur Wahres und selbst Erlebtes.

Schon zu Lebzeiten nahm man ihm diesen Schwindel übel. Heute wirft man ihm vor, seine Träume an realen exotischen Orten und in fremden Kulturen verwirklicht zu haben, die er nicht aus eigener Anschauung kannte. Und man diagnostiziert deshalb kulturelle Aneignung, Rassismus, Kolonialismus und Grössenwahn.

Verwirklichen Sie Ihre Träume also lieber an imaginären Orten oder an realen Reisedestinationen. Obwohl: Auch dort müssen Sie heute mit dem Widerstand von Einheimischen rechnen.

Was machsch? – Wär bisch?

BirsMagazin 2/2024, Fokus Heimat))

Wortwörtlich

Von Jürg Seiberth

Grosse Ehre: Der Schweizer Heimatschutz zeichnet den Verein Birsstadt mit dem Wakkerpreis 2024 aus. Was sehen Sie vor Ihrem geistigen Auge, wenn Sie das Wort «Birsstadt» hören? Ich sehe die Nepomukbrücke in Dornach, denn sie ist für mich das Zentrum der Birsstadt.

Es gibt dort eine goldene Tafel, die an den Brückeneinsturz von 1813 erinnert. In jenem Sommer hat es stark geregnet. Die Birs wurde zu einem reissenden Strom. Sie verstopfte die Brückenbögen mit Bäumen, Balken und Sträuchern. Als die Brücke am 13. Juli um 14 Uhr einstürzte, wurden 48 Schaulustige in die Tiefe gerissen; 11 Personen konnten gerettet werden, 37 starben. Pfarrer Markus Lutz veröffentlichte eine Schrift über die Katastrophe und erstellte eine Liste der Opfer, der Geretteten und der Retter. So konnten auf der Gedenktafel, die am 13. Juli 2013 eingeweiht wurde, alle Beteiligten mit Namen, Beruf, Heimatort und Alter aufgeführt werden.

Besonders beeindrucken mich die Berufsbezeichnungen auf der Tafel: Kapuziner, Notar, Küfer, Büchsenschmied, Soldat, Landjäger, Schuhmacher, Zöllner, Diener, Krämer, Knecht, Bäcker, Taglöhner, Küher, Maurer, Schneider, Hutmacher, Kaminfeger, Gefangener. Eine erschütternde Lektüre: Man sieht die Menschen und die damalige Gesellschaft plastisch vor sich, z. B. waren die aufgeführten Frauen alle Töchter, Ehefrauen und Mütter. Und man erkennt die historische Situation der heutigen Birsstadt kurz vor der Neuordnung von 1815; z. B. war die Nepomukbrücke der Grenzposten zwischen dem eidgenössischen Dornach und dem französischen Reinach.

Die Menschen hatten damals eine klar definierte Rolle in der Gemeinschaft, eine Berufsbezeichnung, die in einem Wort Platz fand und die man heute noch versteht. Man war, was man machte. “Was machsch?» fragen wir deshalb heute immer noch, wenn wir wissen wollen, wer jemand ist, obwohl: «Auf der Nepomukbrücke stehen ein Yield Manager, ein Growth Hacker und ein Data-Scientist.» Was für ein Bild erzeugt dieser Satz – in zweihundert Jahren?

Verdrehungen

BirsMagazin 1/2024, Fokus Humor
Rubrik: Wortwörtlich

Von Jürg Seiberth

Am Geburtstag überreichte Big Bens Vater seinem Sohn eine grosse Tafel Schokolade und sagte dazu: «Weil du Schokolade ja so gar nicht magst.» Big Bens Vater liebte diese kleinen sprachlichen Verdrehungen: Er übertrieb, er untertrieb, er verdrehte ins Gegenteil, und er erntete stets Gelächter und Applaus, vor allem bei Kindern und älteren Leuten. Das war sein einfaches und wirkungsvolles Humorrezept. Er war so erfolgreich damit, dass er es immer häufiger anwandte. Im höheren Alter sagte er eigentlich immer das Gegenteil dessen, was er meinte. Seine Umgebung fand das zwar längst nicht mehr lustig, richtete sich aber darauf ein. Es war kein Problem, solange alle die Spielregeln kannten.

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Belang

BirsMagazin 4/2023

Kolumne Wortwörtlich

Von Jürg Seiberth

Wenn der Zug in den Hauptbahnhof Zürich einfährt, dann siehst du links und rechts diese Fassaden mit den vielen Fenstern. Hinter einem davon sitze ich mit meinem Team. Wir sind im Stress, denn wir müssen so tun, als ob wir zu tun hätten, obwohl wir keine Aufgabe haben. Das Team fleht mich an: Was sollen wir tun, Chef, gib uns Aufträge. Doch leider sehe auch ich keinen Weg und kein Ziel. – Diesen Traum träumte ich heute Nacht. Brühwarm erzählte ich ihn Big Ben, und der sagte nur ein einziges Wort: belanglos.

Dieses Wort ist der ultimative Gesprächs-Stopper. Laut Duden findet man es nur in einem von einer Million Texten. Es wird nur von gebildeten Menschen verwendet, die genau wissen, was sie damit sagen wollen. Ich habe also meinem Freund einen Blick in die Tiefe meiner Seele gewährt und er hat mich gezielt vernichtet. Ich könnte sterben, ich könnte weinen, ich könnte schweigen.

Doch ich nehme den Fehdehandschuh auf: 1. Du weisst, dass ich kein Smalltalker bin. Alles was ich sage ist von Belang. – 2. Träume sind Botschaften aus unserem Unbewussten, sie sind immer von Belang. – 3. Dieser spezielle Traum gehört in eine Serie, in der das Unbewusste mein langsames Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess reflektiert; alle meine Arbeitsstellen, alle meine Kolleginnen und Kollegen werden darin begutachtet und sorgfältig eingeordnet in die Regale meiner Erinnerung. Das ist von Belang. – 4. Dieser spezielle Traum zeigt mir, dass hinter den meisten dieser Fenster Menschen sitzen, die Aufgaben erfüllen, die sie für sinnvoll erachten. – Und … mein letzter, vernichtender Schlag: 5. Diese Menschen leisten ihren Beitrag zu einem grossen Ziel, das niemand kennt. Und mein Traum eröffnet mir den Blick auf ein grosses, aktuelles Thema: auf die Emergenz. Du weisst natürlich nicht, was das bedeutet, doch glaube mir, es ist von Belang. Ich will ja nur sagen, brummt Big Ben kleinlaut, dass dein Traum dich vor die Wahl stellt: Belang oder kein Belang. – Okay, sage ich, Belang.

Zauberworte und Blähwörter

Kolumne Wortwörtlich

BirsMagazin 3/2023

Von Jürg Seiberth

Die Sprache dient nicht nur vernünftigen Zwecken, sie hat auch Zauberkräfte. Man kann mit ihr Krankheiten heilen, Naturgewalten zähmen, Dämonen bannen und das Schicksal gnädig stimmen. Die Menschen glaubten früher an die magischen Kräfte der Sprache, und sie tun es noch heute. Unsere Kinder haben zum Beispiel früh gelernt, dass «bitte» ein Zauberwort ist, das viele Wünsche erfüllen kann.

In der Sprachwissenschaft gibt es die Gattung der Zauberworte leider nicht, «bitte» wird schnöde als Partikel bezeichnet, als kleines Teilchen ohne viel eigene Bedeutung, das nur dazu dient, einer Aussage etwas mehr oder weniger Gewicht zu geben, eine verzichtbare Wortart. Wer seine Sprache zeitgemäss, vernünftig und knapp halten will, verzichtet auf solchen Firlefanz. «Danke» ist übrigensauch so ein Partikel.

 «Übrigens» übrigens auch. Das Word-Korrekturprogramm rät mir dringend davon ab, dieses Wort zu verwenden, da sich der Sinn des Satzes ohne solche «Füll- oder Blähwörter» nur sehr geringfügig ändere. Diese Ansicht teile ich natürlich nicht! «Natürlich» ist natürlich auch ein Blähwort. «Sehr» auch. Und so weiter …

Doch zurück zu «bitte» und «danke». Wenn diese beiden Zauberworte fehlen, fehlt etwas Wichtiges, etwas Emotionales, bei der Person, die die Worte ausspricht und bei der Person, die sie empfängt. Denn Sprache zaubert nicht nur, sie drückt auch Emotionen aus, liebe Blähwort-Jäger.

Ein beliebtes Zauberwort ist «Holz aalänge», «Holz anfassen», «touchons du bois», «knock on wood». Wer diese Worte sagt und danach handelt, redet mit dem Schicksal: «Mir geht es gut, bitte sorge dafür, dass das so bleibt!». Es gibt viele vernünftige Erklärungen für diesen Ausruf. Zum Beispiel: Früher sollen Matrosen vor dem Anheuern an den Mast des Schiffes geklopft haben, um zu hören, ob er morsch sei. Mag sein.

Falls kein Holz in Reichweite ist, kann man sich … auch an den Kopf fassen. Jetzt habe ich … zweimal schweren Herzens auf «übrigens» verzichtet.